Ein Beispiel jahrelanger Fehlausrichtung von Kassen und Politik

Pleitewelle in der Pflege

Enorme Kostenschübe und Finanzierungslücken: Viele Altenheime in Deutschland müssen schließen. Bewohner bangen um ihre Versorgung, Branchenvertreter warnen vor einer „Katastrophe“.
Von Britta Beeger, Frankfurt, und Dietrich Creutzburg, Berlin

Angelika Mertens wünscht sich für ihren Vater eigentlich nur eins: dass er in Ruhe gehen kann. Seit drei Jahren lebt der 87-Jährige im Pflegeheim, kann nicht mehr gehen, ist zudem dement und verliert aufgrund einer Altersleukämie immer mehr Gewicht. Im Grunde könne sie zuschauen, wie ihr Vater nach und nach verschwindet, sagt Mertens, die sehr offen und persönlich erzählt, weshalb wir ihren richtigen Namen nicht schreiben sollen. Das letzte, was sie ihm zumuten will, ist ein Umzug in ein anderes Heim. „Das wäre richtig scheiße“, sagt sie frei heraus.

Womöglich läuft es aber darauf zu: Der Betreiber des Heims in Norddeutschland hat Ende Januar Insolvenz angemeldet. Die inhabergeführte Convivo-Gruppe aus Bremen betreibt nach eigenen Angaben mehr als 100 Pflegeeinrichtungen in Deutschland und beschäftigt rund 5000 Mitarbeiter. Vorerst läuft der Betrieb weiter, die Gehälter der Mitarbeiter sind wohl bis Ende März gesichert. Die Zukunft ist jedoch offen. Es gibt zwar Hoffnung auf einen Einstieg neuer Investoren – der Fortbestand jeder einzelnen Einrichtung wäre aber auch damit nicht garantiert.

Convivo steht nur beispielhaft für ein neues, offenbar stark wachsendes Problem: Kostenschübe, Personalnot und Finanzierungslücken gehen für mehr und mehr Betreiber von Pflegeheimen und -diensten an die wirtschaftliche Substanz. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit in Sachen Altenpflege stand lange Zeit – und aus nachvollziehbaren Gründen – die hohe Arbeitsbelastung von Pflegekräften. Seit einiger Zeit rückt auch das Problem steigender finanzieller Belastungen der Pflegebedürftigen stärker in den Blick. Allerdings: Wenn Pflegeplätze teurer werden, heißt das noch lange nicht, dass bei den Betreibern der Pflegeeinrichtungen mehr Geld hängenbleibt. Im Gegenteil: Deren Erlöse bleiben immer häufiger hinter dem beschleunigten Kostenanstieg zurück.

„Wir erleben, dass eine steigende Zahl von Heimbetreibern in existenzielle Nöte gerät“, bestätigt Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP) und warnt: „Wenn das so weiterläuft, dann rauscht die Altenpflege in Deutschland in eine Versorgungskatastrophe.“ Maria Loheide aus dem Vorstand der Diakonie formuliert es weniger drastisch, auch sie sieht die Altenpflege aber auf dem Weg in eine „prekäre Situation“, wie sie der F.A.Z sagte. Wer ambulante Pflege suche, müsse schon heute oft 15 bis 20 Dienste anfragen, um wenigstens eine Zusage zu erhalten. Und der nächste freie Heimplatz sei zuweilen 150 Kilometer entfernt. „Wir bräuchten deshalb eigentlich einen Ausbau an Pflegeplätzen, keinen Abbau“, mahnt sie.

Die Realität sieht aber so aus: Kurz vor der Convivo hatte schon die Curata-Gruppe ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung beantragt, ebenfalls ein großer privater Träger mit mehr als 40 Einrichtungen und mehr als 3000 Mitarbeitern in Deutschland. Kurz darauf kündigte etwa ein Seniorenheim des Deutschen Roten Kreuzes in Wolfsburg seine Schließung an. Dann traf es ein Heim in Vögelsen im Landkreis Lüneburg. In einer ländlichen Gegend in der Nähe von Stuttgart macht ein Tochterunternehmen der Diakonie Stetten das einzige Pflegeheim im Ort dicht. Die Liste ließe sich um viele weitere Beispiele verlängern. Was im Einzelfall meist nur ein Thema für Regionalmedien ist, entwickelt sich zum Trend.

Die Gründe hinter den Schließungen und Insolvenzen sind stets ähnlich: Erst sorgte die Corona-Pandemie für einen Kostenschub unter anderem durch teure Infektionsschutzmaßnahmen; dann trieben die Folgen des Ukrainekriegs Heiz- und andere Sachkosten kräftig in die Höhe; und obendrein kamen steigende Personalkosten durch die seit Herbst geltenden neuen Entlohnungsvorgaben für Pflegekräfte hinzu. Die Politik hat zwar zeitweilig mit dem steuerfinanzierten „Corona-Rettungsschirm“ ausgeholfen. Aber seit dieser Mitte 2022 eingeklappt wurde, kommt der Kostendruck mit ganzer Wucht bei den Betreibern an.

Dies ist allerdings nur die Grundstruktur des Problems, das durch Besonderheiten der Pflegefinanzierung und -regulierung verkompliziert wird. Anders als Unternehmen in normalen Märkten können Pflegeheime gestiegene Personal- und Sachkosten nicht einfach durch Preiserhöhungen auffangen. Was sie ihren Patienten berechnen dürfen, wird über die mit Pflegekassen und Sozialhilfeträgern auszuhandelnden Pflegesätze bestimmt. Diese neu zu verhandeln, ist aber ein zähes Unterfangen. Die Sätze steigen allenfalls mit erheblicher Verzögerung und laufen dem realen Kostenanstieg hinterher, wie ein Heimleiter aus Flensburg bestätigt. Er habe die höheren Kosten für Strom, Gas und Lebensmittel bei den Kassen eingereicht, sagt er. „Aber die sagen einfach: Das kriegen Sie nicht.“ Auch er hat kürzlich Insolvenz angemeldet.

Hinzu kommt, dass die Pflegesätze traditionell auf Basis einer Auslastungsquote von etwa 95 Prozent kalkuliert werden, wie Verbandspräsident Greiner erläutert. Können die Heime also mehr als 5 Prozent ihrer Plätze nicht belegen, rutschen sie fast schon per Definition in die Verlustzone. Die tatsächliche Auslastungsquote ist seit der Corona-Pandemie sogar auf nur noch 82 Prozent gesunken, wie eine Erhebung unter den AGVP-Mitgliedsfirmen zeigt.

Eine Rolle spielt dabei auch die gesetzliche Fachkraftquote von 50 Prozent, die in den Heimen eine hohe Pflegequalität sichern soll. Wird die Quote auch nur knapp verfehlt, weil sich eine Fachkraftstelle gerade nicht besetzen lässt, fallen theoretisch vorhandene Pflegeplätze aus dem Angebot. Der Mangel an Pflegefachkräften verschärft damit auch die wirtschaftliche Not der Heime. Eine bizarre Nebenfolge zeigt sich an der Rolle der Zeitarbeit im Pflegewesen: Greiner weiß von Fällen, in denen Heimbetreiber bis zu 14.000 Euro im Monat für eine Pflegefachkraft an Zeitarbeitsfirmen zahlen, um Personallücken zu schließen. Sonst müssten sie Pflegebedürftige wegschicken und ihre Auslastung noch weiter verschlechtern.

Die politische Debatte verfängt sich oft darin, ob das eigentliche Problem des Pflegewesens die „Profitgier“ privater Anbieter sei. Das erklärt aber weder die Häufung von Insolvenzen noch den Umstand, dass davon ebenso gemeinnützige Einrichtungen betroffen sind. Auch Heinz Rothgang, angesehener Pflegeforscher der Universität Bremen, erkennt ein Strukturproblem: „Wir sind definitiv in einer krisenhaften Situation“, sagte er zum Convivo-Fall.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereitet nun ein Reformgesetz vor, das durch höhere Beitragssätze für Arbeitnehmer und Arbeitgeber mehr Geld ins System spülen soll und Versicherten höhere Zuschüsse in Aussicht stellt. Folgt man den Vertretern der Heimbetreiber, läuft das aber an den Strukturproblemen vorbei. „Wer ein ausreichendes Angebot an Pflegeplätzen sichern will, muss mit einer Politik der wolkigen Versprechen aufhören und endlich dafür sorgen, dass auch die Perspektive der Betreiber systematisch berücksichtigt wird“, mahnt Greiner.

Konkret setze das etwa dies voraus: Für die Pflegesatzverhandlungen der Heimbetreiber mit Kassen und Sozialhilfeträgern müsse eine realistische Auslastungsquote, etwa 90 Prozent, gesetzlich festgelegt werden. Und Personalschlüssel dürften nicht so streng und starr geregelt sein, dass sie eher den Abbau von Pflegeplätzen fördern als die Qualität. Auch Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Pflegeanbieter, sieht Lauterbachs Pläne ins Leere laufen, wenn am Ende gar nicht genügend Pflegeplätze verfügbar seien. Auf die „existenziellen wirtschaftlichen Bedrohungen der Pflegeeinrichtungen“ habe der Minister „keine Antwort“.